Laufge(h)danken: Die einsame Birke

Viele von euch kennen es vielleicht: Man ist unterwegs und plötzlich schießen einem Gedanken in den Kopf, die einen nicht mehr loslassen. Im Laufen stellt einen das oft vor eine Zwickmühle: Stehenbleiben und den Gedanken festhalten oder weiterlaufen und hoffen, dass dieser wieder zurückkommt?
Viel zu oft entscheide ich mich dabei für die zweite Variante, doch damit soll jetzt Schluss sein. In dieser neuen Kategorie möchte ich Gedanken festhalten, die mich beim Laufen zum Gehen und aufschreiben gezwungen haben oder mir beim Spaziergang in den Kopf geschossen sind. Ich hoffe ihr habt Freude daran zu sehen, was dabei herauskommen kann, wenn man kurz innehält und versucht zu erfassen, was da in einem vorgeht.
Viel Spaß beim Lesen des ersten Textes, der eben beim Spazierengehen entstanden ist!


Und auf einmal standst du da in deiner vollen Erhabenheit. Ich bin vermutlich schon hunderte Male an dir vorbei gelaufen, habe duzende Fotos von dir geschossen und dennoch bist du mir nie richtig aufgefallen. Doch diesmal ist es anders. Dein Antlitz trifft mich wie ein Schlag und ich halte inne, komme langsam zum Stehen und versuche zu erfassen, was es ist, dass mich so an dir fesselt.


Reflexartig greife ich nach dem Handy, um deine Schönheit auf einem Bild festzuhalten, aber wir wissen beide, dass ein Foto dir nicht gerecht werden kann. Ich trete näher und sehe, dass du nicht immer alleine hier warst. Zwei Meter neben dir sind die Überreste eines Baumstumpfes die letzten Hinweise auf deinen Nachbarn, der dir wohl mindestens die letzten 50 Jahre Gesellschaft geleistet hat. „Deswegen strahlst du nun heller“, denke ich stumm, den Blick wieder auf dich gerichtet. Deine kleinen, rundlichen Blätter haben sich mittlerweile gelb gefärbt und einige deiner dünnen Äste hängen schlapp hinunter. Ob du deinem Freund bald folgen wirst? Ist es die Einsamkeit, die dich krank gemacht hat oder leitest du bereits den Herbst für uns ein?


Ich betrachte dich noch eine kurze Weile, ehe ich mich wieder in Bewegung setze, und schmunzle über den Gedanken, dass du mich schon jahrelang hier beobachtest, ich dich aber heute zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe. Ich bin froh, diesmal nicht einfach an dir und deiner rauen Schönheit vorbeigegangen zu sein. Hoffentlich bleibst du noch eine Weile hier, auch wenn du jetzt in Einsamkeit verweilen musst.